.st0{fill:#FFFFFF;}

Erde 2.0: Schöne neue Welt oder umweltmedizinische Vollkatastrophe? 

19. Mai 2023

von Dr. Jens Freese

Schneller, höher, weiter – Hauptsache besser. Und günstiger muss es natürlich auch sein. Das sind die Attribute, mit denen die materialistisch-umweltmissachtende Ausrichtung der heutigen Gesellschaft beschrieben werden kann. Die Konsequenzen sind so dramatisch wie offensichtlich. Dennoch scheint sie ein Großteil der weltweiten Bevölkerung nicht wahrzunehmen oder sogar bewusst zu ignorieren. Wir Menschen sind offenbar inzwischen vollkommen WEIRD (engl. für sonderbar, schräg), soll heißen: Western, Educated, Industrialized, Rich, Democratic. Mit dem Homo sapiens von einst hat das nicht mehr viel zu tun, weshalb Homo oeconomicus als neue Gattung des „Nutzenmaximierers“ mittlerweile eine zutreffendere Bezeichnung ist.

Schleichendes Gift: Ungesunde Umwelt macht ungesunde Menschen!

Durch die moderne Lebensweise werden kurzfristig viele (wenn auch künstlich stimulierte) Bedürfnisse befriedigt. Langfristig sind die heutigen Lebensumstände der Gesundheit und dem körperlichen wie mentalen Wohlbefinden allerdings nicht zuträglich. Ein wunderbarer Übersichtsartikel in diesem Kontext thematisiert zum einen die Auswirkungen des industrialisierten und globalisierten Lebensstils auf die Umwelt als auch den Einfluss einer intakten und natürlichen Umwelt auf die Gesundheit (Abb. 1 und 2). Und das gilt nicht nur für die von Stress geplagte erwachsene Bevölkerung, sondern vor allem für diejenigen, deren Körper und Organe sich noch im Wachstum befinden – die fetale Entwicklung eingeschlossen.

Abb. 1: Die Gesundheit der Menschheit hängt von der Gesundheit unserer Umwelt ab. Die physischen und psychischen gesundheitlichen Folgen der Umweltzerstörung sollten nicht unterschätzt werden (modifiziert nach Prescott 2016).

Abb. 2: Transnational kooperierende Unternehmen profitieren von ungesunden Rohstoffen, die direkt zu den gesundheitlichen Missständen in benachteiligten Gemeinschaften beitragen (modifiziert nach Prescott 2016).

 

Mikroplastik: Je höher die Werte, desto schlechter die Motorik!

Zwei aktuelle Untersuchungen diskutieren den Einfluss einer frühen Exposition von Umweltgiften auf die frühe Organentwicklung: So wurde in einer Beobachtungsstudie ein moderater Zusammenhang zwischen dem Risiko der Entwicklung einer Autismus-Spektrum-Störung und der frühkindlichen Exposition von Pestiziden wie Glyphosat, Chlorpyrifos oder Diazinon festgestellt. Der Zusammenhang war bei denen am größten, die an Autismus mit gleichzeitig intellektueller Beeinträchtigung leiden. Obwohl es sich um eine der größten Beobachtungsstudien zu dieser Fragestellung handelt (2.961 Autismus-Spektrum-Störungen, 445 Autismus-Spektrum-Störungen plus intellektuelle Beeinträchtigung, 35.370 gesunde Kontrollen), lassen die Ergebnisse (noch) keine kausale Schlußfolgerungen zu. Dennoch unterstreichen sie den möglichen Einfluss einer frühzeitigen Exposition von Pestiziden auf die Gehirnentwicklung. Zudem sind nicht nur  Menschen von Pestiziden betroffen, sondern auch Masttiere und vor allem Insekten, deren Population in den letzten 27 Jahren um sage und schreibe 76% abgenommen hat. Bezogen auf die menschliche Weltbevölkerung von 7.6 Milliarden (Stand 01.01.2019) wären das rund 5.8 Milliarden Opfer – ein Wahnsinn!
Natürlich ist auch das Thema der Mikroplastik nicht mehr wegzudiskutieren. Eine Follow-up Studie untersuchte 12 Jahre die Konzentration von Phtalaten in der Spätphase der Schwangerschaft bei der Mutter und nachfolgend bei den Kindern im Alter von 3, 5 und 7 Jahren. Mit 11 Jahren absolvierten sie einen motorischen Test. Das Resultat: Je höher die Phtalat-Werte der Mutter während der Schwangerschaft und bei den Kindern im Verlauf der Kindheit waren, desto schlechter schneiden die Kinder im Motoriktest ab. Aber auch hier gilt: Defizite in der motorischen Entwicklung sind multifaktoriell begründet. Nichtsdestotrotz sind die Ergebnisse mindestens ein Alarmsignal.

Spermienqualität: Warum die Manneskraft in den Keller geht!

Ein interessanter Artikel des Umweltmediziners Joachim Mutter zeigt auf, in welchem Ausmaß umweltmedizinische Faktoren die Spermienqualität vermindern und damit nicht weniger als das Kinderglück verhindern. Die Zahl der künstlichen Befruchtungen mittels In-vitro-Fertilisation und intrazytoplasmatischen Injektionen nimmt rasant zu. Die Spermienzahl und -qualität nahm hingegen in den letzten Jahrzehnten drastisch ab: Zwischen 1938 und 1990 wurde ein Rückgang von 113 Mio./ml auf 66 Mio./ml (~50 %) bzw. zwischen 1974 und 2011 ein Rückgang um 50-60 % verzeichnet. Die Ursachen sieht Mutter in den folgenden Umweltfaktoren:

  • Schwermetalle und Arsen
  • Pestizide
  • Bisphenol A
  • Elektromagnetische Felder niederer Intensität (inklusive WLAN!)

Die allgegenwärtigen WLAN-Hotspots, der stetig wachsende WLAN-Ausbau in Bildungs- und Betreuungseinrichtungen und das „Internet der Dinge“, wodurch Dank der 5. Mobilfunkgeneration (5G) am Ende alle Geräte miteinander kommunizieren können, hängen als Auswüchse der Digitalisierung wie eine dunkle Regenwolke über der menschlichen Gesundheit. Irgendwann zieht ein Gewitter auf und es knallt fürchterlich. Zurück zur Naturverbundenheit könnte das adäquate Gegenmittel sein!

Quellen:

  • Henrich, J., Heine. S.J. & Norenzayan, A. The weirdest people in the world? Behav Brain Sci. 2010 Jun;33(2-3):61-83; discussion 83-135. doi: 10.1017/S0140525X0999152X
  • Prescott, S.L. & Logan, A.C. Transforming Life: A Broad View of the Developmental Origins of Health and Disease Concept from an Ecological Justice Perspective. Int J Environ Res Public Health. 2016 Nov 3;13(11)
  • Balalian, A.A. et al. Prenatal and childhood exposure to phthalates and motor skills at age 11 years. Environ Res. 2019 Apr;171:416-427. doi: 10.1016/j.envres.2019.01.046
  • von Ehrenstein, O.S. et al. Prenatal and infant exposure to ambient pesticides and autism spectrum disorder in children: population based case-control study. BMJ. 2019 Mar 20;364:l962. doi: 10.1136/bmj.l96
  • Mutter, J. & Hensinger, P. Rückgang der Spermienqualität: Umweltmedizinische Ursachen. zkm 2019; 1: 48–55
      •  

Dr. Jens Freese

Über den Autor

Dozent | Wissenschaftler | Berater

Abonniere den Dr. FREESE Newsletter!